27.05.10

1. 
es riecht nach neuschnee und der himmel verspricht gnade. 
er wird die dinge ungeschehen machen.   
wenigstens für den moment, 
da der schnee noch unberührt ist. 

morgen schneit es, denkt sie. 
und es wäre eine gelegenheit:  
hinausgehen. zu ihm gehen. 
sich noch einmal neu erfinden – lassen. 

„erfinde mich. erfinde mich neu“, hatte sie gesagt,  
fast flehentlich, fast drohend. 
„erfinde mich noch einmal!“ 

die möglichkeit schien zum greifen nah:  
etwas anderes sein, eine andere sein 
als die, die sie geworden war.
 

was ist noch möglich?  
ein mann, ein kind. ein haus.  
sie hatten sich eingerichtet und gewöhnt an das, 
was man standard nennt. 

der duft nach neuschnee.  
und ein kuss aus längst vergangener zeit  
ist noch nicht lang genug her,  
um ihr herz in aufruhr und die zeit 
aus dem rhythmus zu bringen.



2.
das kind setzt einen fuß vor den anderen 
und macht einen satz.
schaut ihr mit festem blick in die augen.

„mama!“

es wird sein erster schnee sein. es wird staunen.
es wird ihn fangen und auf der zunge zergehen lassen.
es wird sich hineinwerfen und einen engel hinterlassen.







3.
der mann fährt auf dem fahrrad durch die eisige stadt.
seine hände glutrot vor kälte.
gedankenverloren.

„wo sind die handschuhe?
in der kommode? habe ich sie in der bibliothek verloren,
zwischen all den büchern und gedanken?
so zerstreut, so zerstreut bin ich.“

ein wind geht und weckt eine ahnung: 
er wird dem kind den schnee zeigen. morgen. im park.



4. 
der andere weiß nichts von seiner existenz.
er ist vor langer zeit schon fortgegangen.
mit dem letzten brief haben sie abschied genommen 
und sich dem vergessen preisgegeben. 

sie wissen nichts voneinander.
er weiß nicht, dass sie sich erinnert.
sie weiß nicht, dass er sich erinnert.

morgen schneit es. 
es ist die zeit der wunder und 
der unerwarteten begegnungen.



5.  
es ist kalt. sie spürt den eisigen hauch  
zwischen fenster und sims und  
lässt den blick schweifen.
sehnsuchtsorte. 

hinterm haus der wald.  
jenseits des gartens der see, und all die reifen beeren.
keinen bissen hatten sie herunter bekommen. 
stockender atem, trockene haut – sie fingen feuer. 

stundenlang sind sie durch die straßen gelaufen, tagelang.
sie sah die welt durch seine augen.  
schöner war sie nie.  
zerbrechlicher nie.  

das vertraute wurde zum verheißungsvollen ort.
sie beschworen ihn mit fremden worten.
einen bann legen, auf dass sie keinen ausweg mehr fänden.
tatsachen schaffen, um keine entscheidungen fällen zu müssen.  


sie gingen aufs ganze und verloren sich im detail.  
jede banalität wurde zur anfechtung,  
jedes wort geriet zur verletzung.  

das holz ist noch feucht. kleine explosionen im feuer.  
sie nimmt einen heißen schluck.  
zimt, nelken und kardamom. 
neue erinnerungen flammen auf. 

tröstende kindheitsbilder  
von langen schlittschuhfahrten  
auf den karpfenteichen weit hinter dem dorf,  
von gefrorenen wimpern und rotglühenden wangen,  
von einer zeit, in der es noch gewissheiten gab.







6. 
heute herrscht ungewissheit. gnadenlos. 
sie steuern im blindflug auf bewegliche ziele
wohl wissend, dass diese schon 
am abend ihre gültigkeit  
und sie ihren kurs verloren haben könnten. 

so klammern sie sich an das, was sie haben,
und akzeptieren 
mit wachsendem zweifel 
dessen schalen beigeschmack. 

der zweifel birgt ein neues versprechen. 
er könnte eine brücke sein 
vorausgesetzt: 
sie finden das zauberwort. 

er ist ihre wüste. 
sie ist seine wüste. 
beide sind dem verdursten nahe. 

der quell allen übels bleibt die erinnerung. 
sie schleicht sich in die gegenwart,
ätzt säuregleich schwarze löcher 
in die frisch gewaschene, wohl sortierte wirklichkeit.





7. 
das haus ihrer träume. 
es sucht sie heim – nachts,  
wenn sie sich nicht wehren kann. 
verletzt, versehrt und obdachlos. 

sie sieht ihre kinder 
wie sie vor mürben mauern spielen.   
nichts ahnend. 
weil die welt ihnen noch 
der ort der großen erzählungen ist. 
weil die eltern ihnen noch 
die großen erzähler sind. 

angst. fiebrig-flirrende angst. 
wird sie sie halten,  
beschützen und behüten können? 
der fall ist tief von dort oben, unter dem dach, 
das keinen schutz zu geben vermag. 

unaufhörlich fallen leise pochend regentropfen in die schalen,   
die sie aufgestellt hat am boden. 
die überlaufen und rinnsale bilden,  
die zu bächen werden,  
die zu flüssen anwachsen, 
die zu reißenden, kreischenden, 
donnernden strömen anschwellen... 

aus der traum. 

sie kehrt 
mit jedem atemzug  
ein stück zurück 
in die wirklichkeit. 

ergreift, 
noch schlaftrunken,
das hier und jetzt. 
bekommt die welt 
wieder in den griff.

8.
ausbrechen wollen. wild sein wollen.  
scheißen auf das hier und jetzt.  
mit seinen rollenspielen und erwartungen. 
mit seinem losen mundwerk und dem festen biss. 
stattdessen: mit elektrischer bürste die zähne putzen. 

blühende landschaften statt üppige wildnis.  
sie hat sich erfolgreich domestiziert.  
der prozess der zivilisation im zeitraffer. 

und die sirenen? 
sie singen und singen und singen.




9.
sie sieht ihn an. 
ein anflug von liebe: wohlwollen. 
er quält sich. beherrscht sich. kämpft gegen sich. 
dem festen griff der gegenwart entkommt er nicht. 
geht es um leben oder tod? 

seine glutroten hände so kalt.
hat er die handschuhe in der bibliothek vergessen?
zwischen all den büchern und gedanken?
so zerstreut, so zerstreut ist er. 

„er wird unserem kind den schnee zeigen. morgen. im park.“ 
es wird sein erster schnee sein. es wird staunen. 
es wird ihn fangen und auf der zunge zergehen lassen. 
es wird sich hineinwerfen und einen engel hinterlassen.

19.05.10